Die Progressive Rock Band Anathema beschert sich und ihren Fans derzeit auf einer kleinen Europa-Tour einen besonderen Leckerbissen. Jeden Abend gehen die Briten auf eine gut drei stündige Reise zurück zu ihren musikalischen Wurzeln. Das ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil die Band dieses Jahr ihr 25. Jubiläum feiert und die Reise somit ziemlich lang ist. Besonders ist es auch deshalb, da es wohl nur wenige Bands gibt, die einen Stilwechsel vom Doom Metal über Gothic Metal hin zum Progressive Rock vollzogen haben und heute nicht den Mantel des Schweigens über ihre Anfangsjahre hüllen. Nicht so Anathema, die schon auf dem 2011er Album „Falling Deeper“ wurden Songs der ersten fünf Bandjahre neu arrangiert und mit Orchester umgeben.
Stuttgart war u.a. deshalb eine gut gewählte Station für dieses Konzert, da Anathema dort 1994 eines ihrer ersten Deutschland-Konzerte (als Vorband von Cradle of Filth) gaben und auf fast jeder Tour wieder in der Landeshauptstadt zu Gast waren. Die Liverpooler machten dem rappelvollen LKA Longhorn den Einstieg in ihre Zeitmaschine leicht. Mit dem herzzerreißenden „Anathema“ (feinster Prog und niemand mimt den Leider derzeit live so schön wie Frontmann Vincent Cavanagh) und „Distant Satellites“ – bei dem (Neben-)Sängerin Lee Douglas einen ihrer wenigen aber stets wunderbaren Auftritte an diesem Abend hatte – spielten die Briten zwei Songs, die exemplarisch für das aktuelle Album „Distant Satellites“ stehen.
Mit beiden Teilen von „Untouchable“ („Weather Systems“, 2012) – bei dem zum ersten Mal der stimmgewaltige Publikumschor einsetzte – gefolgt von der 2006er Download-Single „A Simple Mistake“ setzte sich die Zeitreise fort, die bis auf ganz wenige Ausnahmen zeitlich stringent blieb. So konnten beim Gänsehaut-Moment von „A Natural Desaster“, bei dem alle Handy-Taschenlampen im Publikum in Richtung Bühne gehalten wurden und die Band fast ganz ohne Bühnenlicht auskam (wunderschön auf dem Cover der DVD „Universal“ verarbeitet) die letzten Sonnenstrahlen, die immer dichter werdende Wolkendecke durchbrechen. Spätestens mit „One Last Goodbye“ („Judgement“, 1999) –dem letzten Song des ersten Sets – waren die Liverpooler in ihrer todtraurige Phasen angekommen.
Während der kurzen Pause wurde das Banner im Hintergrund der Bühne gewechselt. Standesgemäß prangte dort nun der alte geschwungene, gothisch anmutende Bandschriftzug. Als die Band wieder die Bühne betrat war auch das Licht kälter und härter. Es passte zu den vier Songs von „Alternative 4“ (1998), welche mit viel Energie und einiger Wut durch die Boxen gepfeffert wurden. Am Bass stand nun nicht mehr Jamie Cavanagh, sondern Duncan Patterson, der von 1991 bis zu eben jenem Album in der Band für den Viersaiter zuständig war. Unauffällig zupfte Patterson fortan die Saiten und fiel eigentlich nur dadurch auf, dass er wohl der einzige Sakkoträger des Abends war. Auch am Schlagzeug gab es einen Wechsel. John Douglas, der im ersten Teil noch für Percussion und einige Tasten zuständig war, tauschte mit Daniel Cardoso die Plätze.
Die Bühnenperfomance von Frontmann Vincent Cavanagh war nun nicht mehr so ausgelassen, wie noch im ersten Teil. Was gut zur Gesamtstimmung passte, war wohl eher dem größeren Gesangsanteil der älteren Stücke geschuldet. Da man sich mittlerweile mit „Eternity“ mitten in den 1990ern befand und Anathema meilenweit weg von ihrem derzeitigen Stil, war es interessant zu beobachten, dass vor allem in den Gitarrenharmonien trotzdem noch ein ganz klarer Wiedererkennungswert lag. Ansonsten wurde aber unaufhaltsam metallischer und spätestens als sich das Bühnenlicht blutrot färbte und mit „Sunset of Age“ („The Silent Enigma“, 1995) der erste echte Metal-Song des Abends durch den Saal donnerte und grollte, bildeten viele, viele Hände die Huldigung an den Beelzebub. Diese alten Songs wurden euphorisch gefeiert. So sehr, dass sich Gitarrist Danny Cavanagh während des ruhigen Zwischenteils von „A Dying Wish“ genötigt sah das Publikum zu etwas bremsen, da die Musik sonst völlig untergegangen wäre.
Der dritte Teil der Show begann mit dem ersten Song, der je für Anathema geschrieben wurde: „Crestfallen“. Gespielt wurde er allerdings in der instrumentalen Version von „Falling Deeper“. Unter großem Jubel, strahlend und als sei er nie weg gewesen betrat danach Darren White die Bühne. 20 Jahre nach seinem Ausstieg verstehen sich die Musiker offenbar blendet. Vincent Cavanagh beschränkte sich fortan auf seine alte Rolle als Rhythmusgitarrist und überließ White die Bühne. Der überzeugte neben seinem gutturalen Gesang mit einigen Bruchstücken Deutsch und der ständigen Kontaktaufnahme mit dem Publikum. Einerseits sei er „always happy to do sad music“ und entsprechend schön litt er auch auf der Bühne, anderseits suche in jeder freien Sekunde den Weg zur Bühnenkante und es schien als wolle er jeden einzelnen seiner zahlreichen Fans begrüßen.
Sechs Songs spielte die Band gemeinsam in ihrer Gründungsbesetzung von 1990 und wirkte dabei frisch und eingespielt wie eh und je. Als einzige Zugabe wurde „Sleepless“ vom Debütalbum „Serenades“ (1993) gespielt. Auch wenn das gut angekommen ist, logisch und konsequent war, so hoffte vielleicht so mancher auf eine Überraschung. Denkbar wäre es gewesen den Kreis zu schließen und gemeinsam mit White noch ein aktuelles Stück zu spielen. Aber auch ohne ein solches Highlight war dieser Abend denkwürdig, an dem es Songs von allen Anathema Alben zu hören gab und Lieder gespielt wurden, die schon seit 20 Jahren nicht mehr live zum Besten gegeben wurden. Konzerte dieser Tour werden noch lange nachhallen und sich in so mancher Top-Liste zum Abschluss des Jahres finden.
Die Fotos von der Show gibt es hier.
Setlist:
Anathema
Distant Satellites
Untouchable, Part 1
Untouchable, Part 2
A Simple Mistake
A Natural Disaster
Closer
Pressure
One Last Goodbye
Shroud of False
Fragile Dreams
Empty
Lost Control
Angelica
Eternity Part I
Eternity Part II
Eternity Part III
Shroud of Frost
Sunset of Age
A Dying Wish
Crestfallen
Sleep in Sanity
Kingdom
Mine Is Yours to Drown In (Ours Is the New Tribe)
Under a Veil (of Black Lace)
Lovelorn Rhapsody
They (Will Always) Die
Sleepless